28. März 2024

Autonomie der primäre Wert: das emotionale Argument

Es wirkt zunächst so plausibel: da leidet jemand, aber wer will schon leiden, also ist es besser, dieser Jemand leidet nicht oder weniger, also ist Leidvermeidung gut. Diese Schlussfolgerung setzt aber nicht nur voraus, dass kein leidensfähiges Lebewesen leiden will, sondern auch, dass es die ethische Verpflichtung gäbe, den Willen leidensfähiger Lebewesen zu ignorieren und sie zu ihrem Glück, nicht leiden zu müssen, zu zwingen, wenn man meint, es besser zu wissen.

Komisch nur, dass in der Geschichte der Menschheit immer um die Freiheit, nicht um Leidminimierung gekämpft wurde, und man dafür oft sogar Leid und den Tod auf sich genommen hat. Man wollte Gerechtigkeit, und für autonomiefähige Wesen kann Gerechtigkeit nur bedeuten, dass sie die Freiheit haben, ihr Leben selbst zu bestimmen. Bei der Wahlrechtsbewegung für Frauen ging es um Freiheit und Selbstbestimmung, bei der Bewegung gegen die Sklaverei genauso, und nicht um Leidreduktion für die SklavInnen, ebenso bei Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung und bei der französischen Revolution. Die gesamte ethische Philosophie Kants dreht sich um die Freiheit, jedes Menschenrecht rekurriert auf den Schutz der Freiheit. Ein selbstbestimmtes, freies Leben ist oft eines, in dem man unter Umständen mehr leidet, aber das nimmt man für die Freiheit in Kauf. Sie ist eben das höhere Gut, der primäre Wert.

Im Film „Matrix“ werden die Menschen in Nährlösungen in einer physisch angenehmen Umgebung gehalten. Dazu haben sie aber einen Kabelanschluss am Kopf, durch das ihnen ein Computerprogramm eine virtuelle Realität vorspielt. Während sie also in Wirklichkeit in einer isolierten Badewanne leben und absolut gar nichts tun, erleben sie in ihrer Fantasie, die sie nicht von der Realität unterscheiden können, ein tolles Leben ohne jedes Leid. Jeder Mensch, für den die Leidminimierung der primäre Wert ist, müsste diese Art des Lebens für alle Lebewesen erreichen wollen. Im Film allerdings gibt es eine revolutionäre Gruppe von Menschen, die sich dagegen auflehnen, und alle ZuschauerInnen sympathisieren mit diesen Leuten und empfinden diese Lebensart als einen Alptraum. Aber selbst wenn jemand sagen sollte, dass er lieber so leben würde, als real, mit allem Leid, das ein echtes Leben bietet, dann wäre das eine freie Entscheidung. Am Anfang liegt also die freie Entscheidung, die eigene Freiheit aufzugeben. Doch das Primat der Leidminimierung über der Autonomie würde diese Entscheidungsfähigkeit nehmen. Wäre die Leidminimierung der primäre Wert, müsste man jeden Menschen und jedes Tier zu einem Leben in der Matrix zwingen, bzw. sie ohne ihre Zustimmung dazu täuschen, genauso, wie es in dem Film passiert.

Wenn Leidminimierung auch unter Freiheitsberaubung für Menschen inakzeptabel ist, warum dann für Tiere? Voraussetzung dafür wäre, dass Tiere im Gegensatz zu Menschen gar nicht frei im Sinne von autonom sein könnten. Kant ist dieser Ansicht und schließt deshalb Tiere aus der Ethik vollständig aus. Doch heute kennen wir die Evolution und die Nähe der Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier. Bewusstsein kann sich evolutionär nur entwickeln, wenn es eine messbare Auswirkung auf das Handeln hat, d.i. die Handlung nach einer bewussten Entscheidung. Und diese bewusste Entscheidung ist die es, was man meint, wenn man von Freiheit und Autonomie spricht, sich bewusst für oder gegen etwas entscheiden zu können. Und diese Fähigkeit müssen demnach alle Lebewesen mit Bewusstsein haben, d.h. alle leidensfähigen Lebewesen. Wer bewusst leiden kann, muss auch fähig sein, sich bewusst zu entscheiden, z.B. für ein Leid, und dann muss diese Entscheidung respektiert werden, und dieses Lebewesen darf nicht gegen seinen Willen oder ohne gefragt worden zu sein zu einer Lebensweise gezwungen werden, die nach Ansicht von irgendwem das Leid minimiert.

Viktor Emanuel Frankl ist der Begründer der dritten Schule der Psychotherapie in Wien. In den 1980er Jahren habe ich bei ihm noch Vorlesungen gehört. Sein Ansatz war, zu erkennen, dass sich mit der Freiheit und der Fähigkeit, selbständig Hürden im Leben zu überwinden und sein Leiden zu leisten, erst ein Sinn im Leben einstellt. Ansonsten entwickelt sich eine Depression. Wörtlich sagte er: „Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nachgerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen.“ In einer Welt, in der durch Technik die Mühe und das Leiden reduziert wird, grassiert die Depression – nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Laut New Scientist ist der Großteil der Hunde zumindest in England depressiv.

Ein Beispiel: Ein Wanderer geht auf den Gipfel eines Berges. Der Weg ist sehr mühevoll, vielleicht gefährlich, es ist sehr anstrengend, vielleicht zunächst heiß, dann regnet es, schließlich wird er durch Blitze bedroht. Er überwindet das alles und kommt zum Gipfel. Die Gipfelrast und der Blick in die Landschaft und auf seinen Weg zurück erfüllen ihn mit Sinn. Nun beobachtet das ein anderer Mensch, möchte auch auf den Gipfel, sich aber die Mühen und Gefahren ersparen, also das Leid minimieren. Er baut eine Gondel. Mit der geht es rasch und problemlos auf den Gipfel. Ist die Gipfelerfahrung dieselbe? Sicher nicht. Der Gipfel wird nur noch konsumiert und wirkt rasch langweilig und keinesfalls sinnerfüllend. Rasch auf der Suche nach dem nächsten Gipfel wird der gondelfahrende Gipfelkonsument nie einen Sinn finden und letztlich im Tal seinen Frust mit Alkohol ertränken. Er hat nicht verstanden, dass erst das Leiden zu leisten, die Probleme zu meistern, sich frei für den Weg zum Gipfel zu entscheiden und dabei zu bleiben, auch wenn es mühsam und leidvoll wird, Sinn stiftet.

Kant trennt klar zwischen einem Handlungszweck, der einfach dem Weg des geringsten Leids folgt und den er als unfrei sieht, und einem selbstgesetzten Zweck, der den Handelnden bindet, auch wenn die hedonistische Lust etwas anderes bevorzugen würde. Da erst beginnt die Freiheit, bei der Entscheidung, für höhere Ziele sein Leiden zu leisten. Und dort erst findet man Sinn. Deshalb ist die Freiheit der primäre Wert der Ethik, und nicht die Leidminimierung.

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