28. März 2024

Leidminimierung bei Konflikten unter Wildtieren?

Kürzlich bei einer Konferenz über Effektiven Altruismus in Berlin hielt jemand einen Vortrag über das Leid von Wildtieren, wenn sie in der Kälte ohne Heizung in der Wildnis stehen, oder wenn sie sich gegenseitig töten und essen. Dieses Leid, so der Vortragende, sei wesentlich schlimmer weil von der Anzahl betroffener Tiere her größer, als das Leid der sogenannten Nutztiere in Tierfabriken. Seine Tierschutzgruppe würde deshalb wild lebende Paarhufer in Spanien im Winter füttern. Bei einem anderen Vortrag wurde sogar gesagt, es sei gut, wenn ein wilder Wald abgeholzt und zubetoniert werde, weil dann gibt es weniger Lebensraum für Wildtiere und diese leiden doch so viel, sodass es global gesehen weniger Leid bedeutet, wenn es weniger Wildtiere gibt.

Da blieb mir der Mund offen stehen. Zu was für Blüten das Prinzip der Leidminimierung führt, wenn man es blind verfolgt! Zunächst einmal im Rahmen des Ausmaßes von Leid argumentiert, ist festzustellen, dass das Leid von Tieren in Tierfabriken jenes von Wildtieren in der freien Natur ohne Einfluss durch den Menschen bei weitem übertrifft. Schweine z.B. werden als Kleinkinder von der Mutter getrennt, sehen kein Stroh, werden ohne Betäubung kastriert und an Zähnen und Schwänzen verstümmelt, müssen dann in dichtestem Gedränge leben, und das auf Vollspaltenböden über ihren Exkrementen ohne frische Luft und ohne je die Sonne zu sehen, und ohne jegliche geistige Stimulierung, bis man sie mit Elektroschockern auf Tiertransporter zwingt und grauenhaft schlachtet. Das Leid durch ständige Enge und völlige Reizarmut ist die größte Folter, die man Tieren zumuten kann. Und zwar deshalb, weil sie evolutionär darauf nicht vorbereitet sind. In der Natur passiert so etwas nie und ist in der Phylogenese nie passiert. Im Gegensatz dazu lebt ein Wildschwein in der freien Wildbahn glücklich im Familienverband. Als erwachsenes Tier ist es vor Wölfen und Bären und Luchsen ziemlich sicher. Erst wenn es erkrankt oder alt wird, oder in der Jugend, könnte es von Wölfen attackiert werden. Aber in diesem Fall ist der Adrenalinrausch so groß, dass zunächst die Schmerzen gar nicht subjektiv empfunden werden, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, bis das Tier vielleicht schon tot ist. Das Ausmaß des Leids ist also schon einmal gar nicht vergleichbar. Zusätzlich machen Wildtiere nur 3 % der Biomasse der Landwirbeltiere aus, Nutztiere dagegen 70 %.

Nein, Tiere frieren nicht im Winter draußen im Freien. Jene Wildtiere, die in nördlichen Breiten leben, haben Körper, die sich über Jahrmillionen an den Winter angepasst haben. Ein eigener Blutkreislauf ermöglicht den Tieren kalte Füße zu bekommen, ohne deshalb zu frieren oder zu leiden. Im Gegensatz zu uns Menschen müssen sie nicht jede Zehenspitze auf 37 Grad erwärmen. Auch mit wenig Nahrung im Winter kommen sie gut zurecht. Und dieser Nahrungsengpass ist sogar wichtig, weil viele weibliche Paarhufer eine potenzielle Schwangerschaft von ihrem Ernährungszustand abhängig machen. Mit viel Nahrung, wenn sie z.B. im Winter gefüttert werden, vermehren sie sich wie besessen, und das bringt Enge, Stress, Parasitenbefall und eine Schädigung ihres Ökosystems und damit ihrer eigenen Lebensgrundlage mit sich. Das systematische Füttern von Wildtieren im Winter ist also keine gute Idee.

Aber abgesehen davon ist nicht jedes Leid ein ethisches Problem. Einmal traf mich ein Felsbrocken, während ich in einer Felswand kletterte. Ich hatte einen Schulterbruch und musste mich über Stunden unter großen Schmerzen aus der Steilwand retten. Ist das ethisch schlecht? Müssten mich ethisch motivierte Menschen jetzt vom Klettern abhalten oder würden sie mit Zement alle Felsen festkleben, damit keinem Kletterer mehr einer auf die Schulter fällt?

So absurd das klingen mag, aber in den Utopien jener Vortragenden, die ich anfangs erwähnt habe, ist das durchaus im Kalkül. Es sei für Menschen ethisch geboten, die Natur so zu verändern, dass sie nicht mehr verletzen kann. Man müsse die Tiere genetisch manipulieren, sodass sie sich nicht mehr gegenseitig töten. Oder man solle insbesondere die Paarhufer in menschlichen Parks unterbringen und vor Raubfeinden durch einen Zaun schützen! Dann wird von Menschen bestimmt, wer sich wann mit wem fortpflanzt und was mit dem Nachwuchs passiert. Willkommen im Anthropozän. Diese und ähnliche Vorstellungen lassen bei mir die Alarmglocken schrillen!

Wildtiere sind autonome Wesen. Sie haben ein Recht, unbehelligt von der menschlichen Dominanz, aber auch vom gutgemeinten menschlichen Paternalismus, ihr eigenes Leben zu leben und sich selbst zu organisieren. Im Buch „Zoopolis“ sprechen die AutorInnen bei Wildtiergemeinschaften von einem unabhängigen Staat, in den sich die Menschen nicht einmischen dürfen. Tatsächlich, diese Utopie, die Wildtiere ohne sie zu fragen zu manipulieren, die Natur völlig zu verändern und alles nach menschlichem Gutdünken zu formen, ist wie ein diktatorischer Anspruch. Er setzt voraus, dass die Tiere so Dummchen seien, die sich nicht auskennen würden, und für die man daher ihr gesamtes Leben umgestaltet, weil man es eben besser wisse. Der freundliche Diktator sozusagen, der für seine Untertanen nur das Beste will. Sagen das nicht alle DiktatorInnen von sich? In der Realität waren bisher menschliche Eingriffe in die Natur immer zum Nachteil der betroffenen Tiere.

Nein, der Mensch muss sich da raushalten. Zur Autonomie und Selbständigkeit gehört, dass man die eigenen Probleme selbst angehen können muss, um daran zu wachsen und zu reifen. Zum Leben gehört das Leid und der Tod. Ja, ich habe Mitleid mit einem vom Wolf verfolgten Reh, wenn es erwischt wird. Aber ich habe auch Mitleid mit dem Wolf, wenn er hungert und kein Reh bekommt. Aber weder das Eine noch das Andere ist ethisch gut oder schlecht. Außerhalb der Zivilisation mit ihrem Gewaltmonopol und den damit verbundenen Grundrechten ist ein derartiger echter Konflikt ums Überleben ein ethikfreier Bereich. Wie der Fels, der mir auf die Schulter gefallen ist.

3 Gedanken zu “Leidminimierung bei Konflikten unter Wildtieren?

  1. Vor zwei Wochen habe ich gesehen ich wie ein Krähenpaar versucht eine andere Krähe zu ermorden. In Wien in der Innenstadt. Ihr Revier aber auch ihre Monogame Beziehung waren gefährdet, es ging nicht um Essen. Sie sind richtig zu Sache gegangen, die Krähe die attackiert wurde konnte einem richtig leid tun, am Rücken liegend flehte sie um Mitleid. Ich musste mich zusammen reisen mich nicht ein zu mischen. Ich kenne keinen der Individuen, es geht mich nichts an und vielleicht war der Eindringling ja auch ein echtes asshole?
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    Aus dem Baumkronen kommt aber plötzlich ein anderer, kleinerer Vodel, andere Spezie da rötlicher kleiner Schnabel, womöhlich eine kleine Alpen-Dohle oder große Amsel. Der kleiner beginnt die am Rücken liegende Krähe vor den anderen zwei Mördern zu verteidigen. Stellt sich mutig vor den Verletzten hin und beginnt sich als Schield einzusetzen und zu schreien. Die zwei Angriff-Krähen waren so verdutzt, dass sie sich eine Zeitlang zurückzugen.
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    Ich bin mir sehr sehr blöd und krank vorgekommen mit meinem “gewalt is natürlich” rationalisieren. Ja, natürlich ist die Wildnis oft brutal und kaltblütig, aber es ist genauso natürlich mitleid zu empfinden. Und das wiederum hat nichts mit Spezies zu tun sondern ist von Individuum zu Individuum verschieden.
    Raushalten ist wichtig, aber bitte nicht annehmen das irgendwas anders abläuft als bei uns. Wenn dann können wilde Tiere Sicherheit noch wirklich zu schätzen wissen wenn sie mal kurzweilig da ist. Wir Menschen leben länger, wilde Tiere sind more alive…

  2. Danke für den Artikel, ich lese immer die Beiträge immer gerne.

    Wenn das Prinzip der Leidminimierung zu eng gefasst wird (bspw. nur Leid = Schmerz) kommt es natürlich zu unsinnigen Folgerungen. Das übersieht aber, dass Leid auch die Einschränkung der Autonomie beinhaltet bzw. beinhalten kann. In deinem Beispiel wäre dein “Gesamt-Leid” doch zweifelsohne größer nicht mehr wandern gehen zu können als das Brechen der Schulter, oder?

    Autonomie muss sehr viel stärker gewichtet werden, vielleicht ist es sogar in den häufigsten Fällen der wichtigste Wert an sich, fraglich ist für mich aber, ob es DER Ursprungswert an sich sein kann oder ob es eben “nur” einer der wichtigsten Parameter innerhalb der Leidminimierung ist.

    Weitestgehende Autonomie innerhalb der Natur (mit allen auch negativen Konsequenzen) als eine Art Grundrecht aller Wesen wäre für mich eine sinnvolle Forderung für nichtmenschliche Tiere, beim Menschen muss mMn die Autonomie aber beschränkt werden und zwar genau dann wenn andere schaden nehmen (diese Einschränkung gilt bei und unter nichtmenschlichen Tieren explizit aber nicht, dort kann Autonomie mMn als primärer Wert der Ethik gesehen werden und führt auch zu intuitiv richtigen Ergebnissen).

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